Reisejournalistin Renate Freiling stellt ihre Reportagen, Fotos und Reiseberichte vor.

Dienstag, Dezember 19, 2006

Engadin: Skilaufen à la Diavolezza

Anfang Dezember 2006 wurde trotz leichtem Schneemangel die Skisaison im Oberengadin erfolgreich eröffnet. Die PR-Agentur ALAVIA und ihre Kunden "Celerina Tourismus" und "Bergbahnen ENGADIN/St. Moritz" zeigten einer Gruppe von Journalisten die "Höhepunkte" der Region. Der Artikel erschien am 27. Dezember 2006 in der WAZ.

Skilaufen à la Diavolezza

Über Frauen, Berge und Wintersport

Im Engadin sind nicht nur die hohen Berge, sondern auch deren Geschichten interessant


Strahlend blauer Himmel über schroffen Felsen und schneeweißen Pisten. Kein Laut ist zu hören, nur ein schwaches Rauschen vom Wind, der durch die Schluchten weht. Plötzlich taucht aus dem Nichts ein feuerroter Schopf auf. Das ist Lisa. Eine Frau, die auf der über 2.200m hoch gelegenen Bergstation Marguns im Oberengadin wohnt. Sie kennt sich mit Sagen und mystischen Orten der Umgebung besser aus als jede andere. Und so beginnt eine einzigartige Reise über sagenumwobene Berge. Kommerziell als „Snowsafari“ bezeichnet, führt die Route über drei Skigebiete des Oberengadins mit jeweils einem Dreitausender - Diavolezza, Piz Nair und Corvatsch.

Die Diavolezza/Bernina-Seilbahn bringt die Alpinisten seit 50 Jahren auf den sagenhaften Berggipfel. Sie ist eine der 15 Bergbahngesellschaften, die seit 1974 im Verbund „Bergbahnen Engadin/St. Moritz“ zusammengeschlossen sind. In den letzten 99 Jahren sind 56 Gondel-, Seilbahn- und Liftanlagen entstanden, die „sage“ und schreibe bis zu 65.000 Menschen pro Stunde befördern können! Glücklich, gut auf der Spitze gelandet zu sein, beginnt Lisa, die Sage zu erzählen. „Zwischen Felsentürmen und großen Geröllhalden, mitten in einer blumenbedeckten Bergwiese, ging die schöne Sagenfee in einem tiefblauen Bergsee zum Baden. Man sah sie nicht oft und nur von Weitem. Jäger folgten ihr, kehrten nicht wieder und so wurde sie zur Diavolezza, der Teufelin“, fährt Lisa fort. „Unter den Verschollenen war auch der Jüngling Aratsch. Eines Tages hörte man eine vom Winde getragene Frauenstimme rufen: ‚mort ais Aratsch!’ (Aratsch ist tot) “. So kamen der Berg „Diavolezza“ und der Gletscher „Morteratsch“ zu ihren Namen.
Noch immer erwarten den Touristen auf der Diavolezza atemberaubende Anblicke, wenn auch nicht unbedingt weiblicher, sondern steinerner Art. Piz Palü (3.905m) und Piz Bernina (4.049m) stehen in beeindruckender Unnahbarkeit gegenüber. Zahllose Berggipfel erheben sich in allen Himmelsrichtungen. Der brodelnde Outdoor-Jacuzzi des Berghauses Diavolezza auf 3.000 m Höhe tut sein Übriges dazu, um das Erlebnis unvergesslich zu gestalten. Durch loderndes Feuer angeheizt, erinnert er an einen Teufelskessel und lädt doch zum Einsteigen ein. „Ab und zu, wenn genug Gäste drinsitzen, gibt’s auch eine kleine Gemüseeinlage dazu“, scherzt der Chef des Berghauses, Daniel Kern. Dieses Plateau ist einer der beliebtesten Aussichtspunkte der Schweizer Alpen. Und ein absoluter Höhepunkt für Wintersportler. Von hier aus windet sich die 10km lange Abfahrt über einen Höhenunterschied von ca. 1.100m hinab. Durch bizarre Eisformationen führt die Piste vom Diavolezza-Gipfel über den Morteratsch-Gletscher hinunter zur Bahnstation. Daneben gibt es in diesem Gebiet 20 weitere Pistenkilometer für anspruchsvolle Skifahrer, Snowboarder und Langläufer. Von denen in letzter Zeit übrigens alle zurückkehrten und keiner einer geheimnisvollen Felsenbewohnerin verfiel.
Mit dem Postauto als Skishuttle ist es nicht weit nach Celerina (1.730m), der „sunny side of St. Moritz“, wie sich der unmittelbare Nachbarort des Nobeldorfes selbst bezeichnet. Denn Celerina ist das Dorf mit den meisten Sonnenscheinstunden im Jahr, 1.800 an der Zahl. Mit der 4er-Gondel geht es hinauf zur Bergstation Marguns. Mit ihrem Mann, Rene Leuenberger, der als technischer Leiter 1956 die Celeriner Bergbahnen von Anfang an mit aufbaute, lebt Lisa dort seit 13 Jahren. „Die Diavolezza ist nicht der einzige Berg im Oberengadin, um den sich Frauengeschichten spinnen“, erzählt Lisa. Hoch über Marguns ragt eine auf den ersten Blick unscheinbare Felsformation in den Himmel: der Gipfel der „Trais Fluors“. Nach der offiziellen Version der Sage schenkte der blond gelockte Engel Flurina den armen Bergbewohnern drei Blumensamen namens „Allegria“, „Pigna“ und „Vivanda“ (Freude, Ofen und Nahrung). So brachten die Wunderblumen erst Wohlergehen und später Bequemlichkeit und Neid mit sich. Als es zu Mord und Totschlag kam, ließ die wunderschöne Blumenfee die Blumen vedorren und ein steinernes Mahnmal – Las Trais Fluors – über den Menschen thronen. Lisa erzählt weiter über den Berg, der sich hinter ihr erhebt: „Dass es bei den Trais Fluors um drei Blumen geht, hat sich erst im Laufe der letzten hundert Jahre durch einen kleinen Fehler in der Sprachübertragung ergeben. Ursprünglich hieß der Berg „Trais Suors“ – drei Schwestern.“
Und so stellt sich heraus, dass Lisa’s Version eine ähnliche Geschichte parat hält wie die Diavolezza. „Alten Erzählungen zufolge gab es auf dem Berg die schönsten Hirten, denen die Mädels auf den Berg folgten. Der Zauber des Berges jedoch verbot ihnen, sich umzudrehen. Als die drei Schwestern dennoch den Hirten hinterher blickten, erstarrten sie zu Stein.“ Auch hier sind also wieder Frauen im Spiel, und welche Version die richtige ist, sei dahin gestellt.
Lisa lebt ihre eigene Geschichte. Und die hat nichts mit Zauberei zu tun. In Celerina kennt man sie, mag man sie. Im Tal ist sie als „Engel“ bekannt. Sie kommt jeden Tag vom Berg herab, kümmert sich um die Kirchengemeinde, um Behinderte, Sterbende, Hochzeitsleute – eben alle, die ihre menschliche Unterstützung brauchen. Ihr feurig rotes Haar strahlt herzliche Wärme und Lebhaftigkeit aus. „Wenn ich wieder hinauf fahre, lasse ich die Sorgen unten. Es ist wunderbar, oben zu bleiben, die Ruhe und den Frieden zu spüren“, schwärmt sie. „Aber unten wartet meine Aufgabe, den Menschen zu helfen. Ich erzähle auch gern die Geschichten und Sagen aus der Region, sie sind mystisch - und menschlich.“
Von der Mittelstation Marguns aus erstrecken sich Sessellifte in drei Richtungen – Plateau Nair, Trais Fluors, Corviglia. Das gesamte Gebiet umfasst 158 km rote und schwarze Pisten. Nach einer herrlichen Abfahrt von der Sonnenseite Corviglias’ in Richtung St. Moritz erreicht man Salastrains. Das ist nicht nur eine Liftstation an der Weltmeisterschafts-Piste von 2003, sondern auch der unterirdische Standort der Beschneiungsanlage für das gesamte Gebiet Corviglia. Wo Skiläufer in den Sessellift steigen, führt ein unscheinbare Treppe nach unten.
Es ist gespenstisch. Dunkel. Dicht zusammengedrängt stehen verstaubte 4er-Sessel-Kabinen im Keller. Weiter hinten fällt ein Lichtstrahl aus einer geöffneten Tür. Dort ist die Schaltzentrale. Von hier aus wird die Beschneiungsanlage gesteuert, ein Computer, einer, der ihn bedient. Gleich nebenan ein Bullauge, hinter dem 5 Mio Liter Wasser darauf warten, in Schnee verwandelt zu werden.
„Mit einem Druck von ca. 80 bar wird das Wasser durch ein komplexes Leitungssystem über 800 Höhenmeter auf die Berge geschickt, wo es durch spezielle Düsen zerstäubt und zu Schnee gefriert“, erklärt Nicolo Holinger, Betriebsleiter der St. Moritzer Bergbahnen. „So werden bis zu 30% der Flächen von 260 Schneeerzeugern beschneit und selbst bei milden Witterungsverhältnissen können Skifanatiker auf die Pisten.“ Weiter geht’s zum dritten Aufstieg rüber nach Silvaplana. Die erste der beiden Seilbahnen steuert 2.700m Höhe an. Mit der zweiten Seilbahn auf der Spitze des Corvatsch angekommen, liegt dort die höchste Station, die die Engadiner Bergbahnen „anfliegt“ - 3.303m über dem Meeresspiegel. „Nicht nur die Aussicht, sondern auch die Gastronomie ist hier oben spitze“, meint Lisa. Im Bergrestaurant wird ein einheimisches Gericht – Maluns – serviert. In Butter geröstete Kartoffelribel mit Apfelmus und Käse. Eine Spezialität, mit der der Wirt, Rudi Florian, den hungrigen Skiläufer – und Lisa - glücklich macht.
Zum Abschluss der wunderbaren Schneereise lockt den Wintersportler eine sich über 800 Höhenmeter schlängelnde Talabfahrt mit Blick auf ddie Engadiner Seenplatte. Doch ganz so theatralisch wie die Sage der Diavolezza endet diese Tour nicht.
„Die Diavolezza hatte keine Ruhe bis nicht der Gletscher vorrückte, und die ganze Alp bis hinunter ins Tal mit Eis und Geröll zugedeckt war. Dann verließ sie die Gegend mit dem Klageruf: ‚davent dal Munt dal Pers!’ (weg von diesem verlorenen Berg!) und wurde nie mehr gesehen.“
Lisa fährt heute Abend wieder auf den Berg nach Marguns. Und morgen früh kehrt sie, wie jeden Tag, ins Tal zurück.

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